" Die Frage nach der Wirkung einer bestimmten Erscheinung auf den menschlichen Organismus ist aufs engste mit der Frage verknüpft, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Erscheinung überhaupt zustande kommt. Veranschaulichen wir uns dies an einem einfachen Beispiel. Angenommen, wir befänden uns in einem dunklen Raum, in dem eine grosse Kugel aufgehängt ist. Solange der Raum dunkel ist, können wir die Kugel selbstverständlich nicht sehen. Nähern wir uns ihr aber von einer Seite her mit einer Kerze, so tritt sie mit dem der Kerze zugewandten Teil allmählich aus der Dunkelheit heraus - zunächst wie eine Sichel, dann wie ein Halbmond-, während sich der übrige Teil kontinuierlich verschattet, bis sich seine Umgrenzung im Ungewissen verliert. Die Kugel schwebt gleichsam in einer Lösung von Dunkelheit und kommt dadurch als Kugel zur Erscheinung, dass sie aus dieser Dunkelheit auftaucht, um gewissermassen wieder darin verschwinden zu können. Wenn wir jetzt umgekehrt die Kugel von allen Seiten her gleichförmig ausleuchten, so erscheint sie nicht mehr als das, was sie ist – ein plastischer Körper –, sondern als flache Scheibe.
Mit diesem einfachen Experiment sind wir bereits dem Grundprinzip aller Erkenntnis – jede sinnliche Wahrnehmung ist ein Erkennen, ist ein Urteil – auf die Spur gekommen, dass nämlich zum Erkennen ein Akt des Produzierens gehört. Wenn man die Kugel vollständig ausleuchtet, hat das Auge keine Möglichkeit mehr, die Kugel zu produzieren. Sie ist schon gegeben, und eben dadurch verliert sie ihre Erscheinungswirklichkeit. Mit anderen Worten: Erscheinung ist nur möglich im Bereich des Ungewissen.
Nimmt man einer Erscheinung die Ungewißheiten, die Unentscheidbarkeiten, so ist die Erscheinung als solche, wie auch der Erkenntnisprozess unterbunden. Zum Erkennen gehört also ein Wagnis, ein Vorwärtsgehen in einem Feld von Unsicherheit."
- Hugo Kükelhaus, Organismus und Technik, aus dem Kapitel: Die Phantasie des Leibes, Soest 1979
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